Über die Geduld
(von Rainer Maria Rilke)
Man muss den Dingen die eigene, stille ungestörte Entwicklung lassen, die tief von innen kommt
und durch nichts gedrängt oder beschleunigt werden kann, alles ist austragen – und dann gebären …
Reifen wie der Baum, der seine Säfte nicht drängt und getrost in den Stürmen des Frühlings steht, ohne Angst, dass dahinter kein Sommer kommen könnte. Er kommt doch!
Aber er kommt nur zu den Geduldigen, die da sind, als ob die Ewigkeit vor ihnen läge, so sorglos, still und weit …
Man muss Geduld haben mit dem Ungelösten im Herzen, und versuchen, die Fragen selber lieb zu haben, wie verschlossene Stuben, und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache geschrieben sind.
Es handelt sich darum, alles zu leben.
Wenn man die Fragen lebt, lebt man vielleicht allmählich, ohne es zu merken, eines fremden Tages in die Antworten hinein.
Anmerkung: Diese Zeilen stammen aus einem Brief von Rainer Maria Rilke „an einen jungen Dichter“ (Franz Xaver Kappus), in dem sie eingestreut sind.
An Franz Xaver Kappus
z. Zt. Worpswede bei Bremen, am 16. Juli 1903